»Das Registrierungsverfahren, wie es jetzt ist, produziert Ausschlüsse von Menschen aus der Gesellschaft«

Interview mit Karsten Dietze, Referent Advocacy bei Handicap International

Crossroads: Aus der Ukraine flüchten noch immer viele Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen. Was wisst ihr über deren Ankommen in Deutschland, zum Beispiel in den Aufnahmezentren?

Karsten Dietze: Und es ist gut möglich, dass die Zahlen im Herbst und Winter wieder steigen! – Wir wissen über die Geflüchteten mit Behinderung, dass sie wie alle anderen Geflüchteten von den Städten aus, in denen sie ankommen, auf alle Bundesländer weiterverteilt werden. Manche fahren aber auch zu Verwandten oder Freunden weiter. Oder in ein anderes Land, nach Frankreich zum Beispiel.

Das klingt doch erst einmal ganz gut organisiert.

Ganz im Gegenteil! Heute wie 2015 und überhaupt bei allen Geflüchteten mit Behinderung gab und gibt es ein riesiges Problem: Die sogenannten Schutzbedarfe dieser Menschen werden nicht identifiziert. Niemand in den Aufnahmezentren, keine Behörde fragt systematisch nach deren Behinderungen und nach dem, was diese geflüchtete Person mit ihrer Behinderung braucht. Wie soll ein Mensch mit einer Querschnittslähmung, der im Rollstuhl sitzt, in einer Sammelunterkunft in den ersten oder zweiten Stock seines nicht barrierefreien Zimmers kommen? Nur ein Beispiel. Dem speziellen Bedarf der Menschen trägt das Aufnahmeverfahren keine Rechnung, oder sagen wir, manchmal tut es das, wenn Personal vor Ort für den behinderungsspezifischen Bedarf sensibilisiert ist.

Gehen wir nochmal zur Weiterverteilung zurück: Wie wirkt sich das Verfahren „Aufteilung nach dem Königsteiner Schlüssel“ auf die Geflüchteten mit Behinderung aus?

Hier setzt sich leider die Nichtidentifizierung von Schutzbedarfen fort: Auch bei der Ankunft in anderen Bundesländern werden behindertenspezifische Bedarfe nicht abgefragt. Das bringt für die Menschen große Probleme mit sich. Ein Beispiel: Eine gehörlose Person läuft Gefahr, in der Sammelunterkunft isoliert zu sein, wenn sie nicht in die Kommunikationsgemeinschaft aus anderen Gehörlosen aufgenommen werden kann, weil um sie herum nur hörende Menschen sind.  Auch Menschen mit Mobilitätseinschränkungen können isoliert werden. Allein weil sie das Zimmer nicht verlassen können. Menschen mit Autismus ziehen sich zurück. 

Der „Königsteiner Schlüssel“: In Deutschland werden geflüchtete Menschen nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Damit wird geregelt, dass große Bundesländer mehr Geflüchtete in ihre Aufnahmezentren aufnehmen als kleine. Wer wie viele Geflüchtete aufnehmen soll, wird jedes Jahr neu berechnet. Die Quote errechnet sich aus den Steuereinnahmen und der Anzahl Einwohner*innen eines Bundeslandes. So nimmt der Stadtstadt Bremen deutlich weniger Geflüchtete auf als das Bundesland Nordrhein-Westfalen, das eine sehr große Bevölkerung hat.

Die Menschen mit Behinderung könnten bei der Registrierung ihre Behinderung angeben.

Sprachbarrieren, traumatische Fluchterfahrungen, durch die Behinderung bedingtes Nichtsagen – Gründe dafür, warum Menschen die Behinderung nicht angeben, gibt es viele. Zumal einige die Behinderung angeben. Aber wie läuft das Registrierungsverfahren zum Beispiel am „Drehkreuz Tegel“ denn ab? Dort wird nur geprüft, ob es Gründe dafür gibt, dass die Geflüchteten in Berlin bleiben können. Gibt es keine, geht es weiter in ein anderes Bundesland. Im Grunde erhalten die Geflüchteten keine Möglichkeit, zu sagen: „Ich habe die und die schwere Krankheit, ich brauche eine barrierefreie Unterkunft.“ Oder: „Ich benötige jemanden, die meine Reise begleitet.“ Das führt für die Betroffenen zu großen Problemen. Übrigens wissen wir, dass, wenn am Anfang nicht geklärt wurde, ob und welche Behinderung jemand hat, auch im weiteren Aufnahmeprozess meist keine Identifizierung erfolgt.

Zum Beispiel bei der Teilhabe von geflüchteten Menschen mit Behinderung.

Ja genau. Zwar viel später, aber klar: Wer beispielsweise nicht zeitnah einen Sprachkurs besuchen kann, schafft es oft erst spät auf den ersten Arbeitsmarkt, wenn überhaupt. Hierfür werden die Weichen früh gestellt. Aber ich will noch mal zurück zum Verfahren selbst, da gibt es nämlich weitere Nachteile: Die ankommenden Menschen werden nicht gefragt, ob und wo in Deutschland bereits Angehörige leben …

… und die Angehörigen könnten zusammen mit den Geflüchteten den Weg bahnen, dass sie Zugang zu Sozial-, Teilhabe- und Gesundheitsleistungen erhalten.

Wichtiger Punkt! Das Registrierungsverfahren, wie es jetzt ist, produziert Ausschlüsse von Menschen aus der Gesellschaft, ganz klar. Aber man muss auch sagen: Für ukrainische Geflüchtete läuft es durch das Vorgehen der Ministerien und der Landesbehörden schon viel besser als für die Geflüchteten, die aus anderen Ländern, zum Beispiel aus Syrien oder Afghanistan, nach Deutschland kommen. Die Ukrainer*innen haben sofort nach ihrer Registrierung Zugang zu Leistungen nach SGB II und XII und zu Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Das ist ein enormer Fortschritt in Hinblick auf die Wahrung ihrer Menschenrechte.

Der Ausschluss geflüchteten Menschen mit Behinderung aus der Ukraine passiert an anderer Stelle, nicht wahr?

Und zwar bei der Leistungskategorie der Eingliederungshilfe. Bei der Unterstützung also, die speziell für Menschen mit einer Behinderung erbracht wird. Die Gesetzgebung hat im Rahmen des sogenannten Rechtskreiswechsels die ukrainischen Geflüchteten mit Behinderung schlichtweg vergessen. Dadurch, dass damals keine Regelung für die Menschen mit Behinderung ohne dauerhaften Aufenthalt in Deutschland getroffen wurde, stehen die Betroffen nun vor einem großen Fragezeichen: Haben sie einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe nach SGB IX?

Trotzdem erhalten einige von ihnen Leistungen der Eingliederungshilfe.

Ja, und das entspricht unserer Rechtsauffassung, die auch die Rechtsauffassung der Bundesregierung ist, wie ein Schreiben des BMAS verdeutlicht. Trotzdem gibt es Bundesländer, die hier anders denken. 

Eine weitere Barriere ist der Mangel an barrierefreiem Wohnraum.

Das stimmt, und nicht nur der Mangel ist ein Problem, sondern auch die Bezahlung: Die Kosten liegen nämlich bei den Kommunen. Und die können oder wollen höhere Kosten für Barrierefreiheit oft nicht oder zumindest nicht vollständig übernehmen. Letztlich aber gibt es in Deutschland einen großen Mangel an barrierefreiem Wohnraum. So bleiben geflüchteten Ukrainer*innen und auch Nichtukrainer*innen nur die Unterkünfte für Geflüchtete. Und die sind schlecht ausgestattet – selbst wenn das Personal engagiert ist. In den Unterkünften leben die geflüchteten Menschen mit Behinderung oft abseits des für sie wichtigen Hilfesystems, denn viele Unterkünfte liegen eher abgelegen. Zudem ist das Personal, das dort arbeitet, oft nicht darin geschult, die Probleme, die Menschen mit Behinderung haben, zu handhaben. Das ist ein riesiges Handlungsfeld – vor allem für die Landesbehörden und die Kommunen.

Was gibt es auf diesem Handlungsfeld zu tun?

Die bedarfsgerechte Unterstützung sichern, barrierefreien Wohnraum bereitstellen, und zwar jenseits der Geflüchtetenunterkünfte, weitere Unterstützung bei der Eingliederung, da fällt mir noch einiges mehr ein, aber für jetzt ist mir noch wichtig: Das Leben in einer Sammelunterkunft ist für die meisten dort lebenden Menschen und genauso für Menschen mit Behinderung eine extreme Belastung! Als die Coronapandemie begann, erlebten wir in Geflüchtetenunterkünften ein dramatisches Ausbruchsgeschehen. Das brachte die dort lebenden Menschen mit Behinderung, die oft vulnerabel im Fall eines schweren Krankheitsverlaufes waren, in eine hochgefährliche Situation.

Wie geht das Personal in den Unterkünften mit den geflüchteten Menschen mit Behinderung um?

Oftmals ist er von Unsensibilität und Unkenntnis geprägt. Das ist gar nicht böse gemeint, aber für die Menschen mit Behinderung hat das natürlich eine große Tragweite. Wir bekommen zum Beispiel mit, dass Menschen mit Behinderung oft zu wenig Hilfe im Alltag bekommen. Fährt ein Rollstuhl nicht mehr, gibt es lange keinen Ersatz. Menschen erhalten keine Kostenübernahme für Termine bei Fachärzten. Wir hören da sehr viel, was nicht gut läuft. Die Situation in den Sammelunterkünften ist und bleibt ungeeignet für Menschen mit Behinderung.

Kann hier das Angebot des Wohnraumvermittlungsportals Hilfsabfrage helfen?

Das Ansinnen von Hilfsabfrage ist die schnelle Vermittlung von bedarfsgerechtem Wohnraum an Geflüchtete in Deutschland. Handicap International und ISL betreiben die Webseite, auf der Wohnraumgeber*innen, insbesondere Einrichtungen der deutschen Behindertenhilfe Unterbringungsangebote für Menschen mit Behinderung zur Verfügung stellen. Das sind zum Beispiel Wohngruppen, Pflegeeinrichtungen, Einrichtungen für Intensivpflege. Aber es gibt auch private Wohnangebote. Wir bemerken aber, dass die Hilfsbereitschaft nachlässt, das hat sicherlich viele Gründe. Aber der Bedarf ist nach wie vor groß. Daher noch einmal unser dringende Appell, auch an Privatpersonen: Stellen Sie Ihre Angebot für Wohnraum auf Hilfsabfrage.de ein!

Wie sähe die optimale Aufnahme geflüchteter Menschen mit Behinderung in Deutschland aus?

Optimal wäre es so: Die Menschen kommen an, stellen sich bei den Behörden vor, die befragen sie kurz, auf freiwilliger Basis, um festzustellen, ob es Hinweise auf Schutzbedürftigkeit gibt. Abhängig vom Ergebnis suchen die Behörden eine Unterkunft, die für die betreffende Person geeignet ist; und zwar eine möglichst dezentrale Unterkunft, keinen Wohnraum, den der geflüchtete Mensch mit Behinderung mit hunderten Anderen teilen muss. Im nächsten Schritt erhält die Person eine Beratung, in der sie über ihre Rechte informiert wird. Auch über den Zugang zu Leistungen oder über Integrationsmöglichkeiten. Und last but not least bekommt die Person genügend Zeit, sich auf das Asylverfahren vorzubereiten, und erhält die dafür notwendige Beratung. Und sie bekommt Leistungen des Staates, zum Beispiel Leistungen für die Gesundheit. Sie muss nicht jeden Besuch in einer ärztlichen Praxis im Sozialamt erst beantragen. Sie sollte einen für ihre Lernbedürfnisse geeigneten Sprachkurs besuchen können, auch wenn sie gehörlos ist oder eine kognitive Beeinträchtigung hat. Im Grunde müsste Deutschland das alles leisten, schließlich hat es die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet.

Vielen Dank für das Interview.