Mehr Unterstützung für geflüchtete Menschen mit Behinderung in Deutschland auf fachpolitischer Online-​​Tagung gefordert am 09.06.2021

Expert*innen und Selbstvertreter*innen diskutierten am 9. Juni mit Vertretern und Vertreterinnen einiger Bundestagsfraktionen über die vielfältigen Probleme und Herausforderungen geflüchteter Menschen mit Behinderung in Deutschland. Ziel der fachpolitischen Tagung „Inklusion: eine Frage des Aufenthaltstitels? Geflüchtete Menschen mit Behinderung zwischen Asyl- und Teilhaberecht“ war nicht nur der Austausch über die zahlreichen Barrieren und über den Bedarf an Unterstützung, sondern auch die Debatte über konkrete Forderungen für die politische Agenda der Bundestagswahl 2021. Organisiert wurde die Online-​Tagung mit rund 350 Teilnehmenden aus dem ganzen Bundesgebiet von Crossroads | Flucht. Migration. Behinderung., einem Projekt von Handicap International e.V.

In seinem Grußwort zu Beginn der Veranstaltung machte Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, deutlich: „Geflüchtete Menschen mit Behinderungen haben besondere Bedarfe. Dies gilt nicht nur für das Asylverfahren, die Unterbringung und medizinische Versorgung, sondern auch für den Spracherwerb, für Schule und Ausbildung. Konkret geht es um Teilhabeleistungen und behinderungsbedingte Nachteilsausgleiche. Deshalb ist es sehr wichtig, dass besonders schutzbedürftige Personen frühzeitig systematisch identifiziert werden und passgenaue Angebote erhalten.“

Tagtägliche Herausforderungen

Geflüchtete Menschen mit Behinderung machen in Deutschland häufig die Erfahrung, zwischen den Stühlen zu sitzen. Ihre Belange und Bedürfnisse treffen oft auf Zurückweisung, Überforderung oder Ausgrenzung. Die Geschäftsführerin von Handicap International e.V. Dr. Inez Kipfer-​Didavi verdeutlichte spezifische Herausforderungen, denen geflüchtete Menschen mit Behinderung tagtäglich in Deutschland gegenüberstehen. Dazu zählen:

  • eine fehlende systematische Identifizierung des Unterstützungsbedarfs bei der Erstaufnahme
  • zu wenig Berücksichtigung von behinderungsspezifischer Unterstützung im Asylverfahren
  • ein nicht vorhandenes Angebot von Sprachkursen für Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung
  • der erschwerte Zugang zu Teilhabeleistungen
  • eine nicht garantierte Finanzierung von Dolmetschleistungen, insbesondere im Gesundheitswesen

Gemeinsam für einen positiven Wandel

Folgende Bundestagsabgeordnete diskutierten mit Expert*innen über die Bedürfnisse von geflüchteten Menschen mit Behinderung:

  • Wilfried Oellers, Behinderungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion,
  • Sören Pellmann, Behinderungspolitischer Sprecher der Die Linke-Fraktion
  • Corinna Rüffer, Behinderungspolitische Sprecherin der Bündnis 90/Die Grünen-Fraktion.

Die Teilnehmer*innen setzten sich nicht nur mit den spezifischen Herausforderungen für Menschen mit Beeinträchtigungen wie Seh- und Hörbehinderungen oder kognitiven Einschränkungen auseinander, sondern auch mit dem Zugang zu medizinischer Versorgung und Teilhabeleistungen. Dieser wird insbesondere durch das Asylbewerberleistungsgesetz und das SGB IX (§100 SGB IX) empfindlich eingeschränkt. Darüber hinaus stärkte die fachpolitische Tagung die Zusammenarbeit der bundesweit engagierten Selbstvertreter*innen, Berater*innen, Rechtsvertreter*innen, Interessensvertreter*innen und Ehrenamtlichen.

Die Dokumentation der Fachtagung finden Sie hier.

Erfahrungen der Selbstvertretenden

Für die fachpolitische Online-​Tagung wurden drei Videos von geflüchteten Menschen mit Behinderung und ihren Angehörigen aufgenommen, in denen die Selbstvertretenden des Projekts „Empowerment Now“ von den unterschiedlichen Barrieren berichten, mit denen sie in Deutschland konfrontiert worden sind:

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Geflüchtete Menschen mit Behinderung haben in den ersten achtzehn Monaten ihres Aufenthaltes in Deutschland nur Anspruch auf die sogenannten Grundleistungen. Der Zugang zu wichtigen medizinischen Angeboten sowie zu Teilhabe-​​ und Eingliederungsleistungen bleibt den Betroffenen versagt.

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Obwohl sie durch die EU-​Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU dazu verpflichtet sind, identifizieren die Bundesländer bei der Ankunft Geflüchteter mit Behinderung die für Behinderte spezifischen Schutz-​ und Unterstützungsbedarfe nicht systematisch. In der Folge werden Geflüchtete zu wenig berücksichtigt und bleiben unsichtbar – sowohl bei ihrer Unterbringung als auch bei der Vermittlung spezifischer Beratungsangebote, aber auch bei der Bereitstellung notwendiger Unterstützung und Assistenz im Asylverfahren. Weil Unterstützungsbedarfe nicht systematisch ermittelt werden, wird die Feststellung von Versorgungslücken enorm erschwert.

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Das Integrationskursangebot des Bundes ist eine Grundlage für die gesellschaftliche Teilhabe geflüchteter Menschen. Für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung gibt es bisher keine Sprachkurse. Auch für andere Arten von Behinderung ist das Integrationskursangebot zu klein. Somit bleiben den Betroffenen verschiedene Wege der Inklusion verwehrt, zum Beispiel die Teilhabe am Arbeitsmarkt.

Viel gibt es zu tun, einiges wurde erreicht – ein Rückblick auf die Vernetzungskonferenz 06.12.2022

In einer großen Onlinekonferenz am 6. Dezember 2022 blickte Handicap International gemeinsam mit Betroffenen, Politiker*innen und Organisationen der Behindertenhilfe auf das Fluchtjahr 2022 zurück. Millionen Ukrainer*innen hatten ihr Land verlassen, davon vermutlich ein Zehntel mit einer Behinderung.

Zentrale Fragen der Konferenz „Was können wir aus der Aufnahme geflüchteter Menschen mit Behinderung aus der Ukraine für die Inklusion geflüchteter Menschen in Deutschland lernen? Erfahrungen – Herausforderungen – Lösungswege“ waren beispielsweise:

  • Wie erging es den Geflüchteten mit einer Behinderung, die nach Deutschland gekommen waren?
  • Wie engagierten sich Organisationen der Behindertenhilfe für die Geflüchteten?
  • Wie blickt die Politik auf den Aufnahmeprozess in Deutschland?
  • Und welche – dies war die Leitfrage der Konferenz – Erfahrungen mit der Aufnahme geflüchteter Menschen mit einer Behinderung lassen sich für die Aufnahme anderer geflüchteter Menschen mit Behinderung nutzbar machen?

Erfahrungsberichte

Die Konferenz begann mit den Erfahrungsberichten von drei geflüchteten Menschen, die selbst eine Behinderung haben, oder deren Angehöriger eine Behinderung hat.

Impulsvorträge

In zwei Impulsvorträgen zu politischen Handlungsfeldern und Verbesserungsbedarfen kamen Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, und Staatsministerin Reem Alabali-​Radovan, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und Beauftragte für Antirassismus zu Wort. Jürgen Dusel sprach über die fehlenden Identifizierungsverfahren bei der Ankunft geflüchteter Menschen mit einer Behinderung in Deutschland und deren Notwendigkeit, er lobte das zivilgesellschaftliche Engagement und wies auf erste Verbesserungen bei den gesetzlichen Rahmenbedingungen hin.

Staatsministerin Reem Alabali-​Radovan bedankte sich zuerst für das zivilgesellschaftliche Engagement. Wie Jürgen Dusel bemängelte sie die unzureichende Identifizierung der Bedarfe vulnerabler Gruppen unter den Geflüchteten. Sie wünschte sich, dass geflüchtete Menschen mit Behinderung bessere Zugänge zu wichtigen Leistungen erhalten und unterstrich die Bedeutung von Qualifizierung als wichtige Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe.

Podiumsgespräch

Im Podiumsgespräch diskutierten die Politiker*innen Takis Mehmet Ali, MdB (SPD-​Fraktion im Bundestag), Muhanad Al-​Halak, MdB (FDP-​Fraktion im Bundestag), Corinna Rüffer, MdB (Bündnis 90/Die Grünen – Fraktion im Bundestag) sowie Wolfgang Rombach (Bundesministerium für Arbeit und Soziales) mit Harald Löhlein, Abteilungsleiter Migration beim Paritätischen Gesamtverband und Prof. Dr. Gerhard Trabert von Ambulanz ohne Grenzen die Frage:

„Zehntausende Menschen mit Behinderung aus der Ukraine fliehen 2022 nach Deutschland – Welche Erkenntnisse ergeben sich für eine Aufnahme geflüchteter Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen in Deutschland?“

Eine ausführliche Vorstellung der Diskussion folgt in der Dokumentation zur Konferenz Anfang 2023.

Vorstellung ausgewählter Initiativen

Am Nachmittag stellten sich Initiativen und Organisationen vor, die bei der Evakuierung, Unterbringung, Beratung und Unterstützung geflüchteter Menschen mit Behinderung aus der Ukraine und darüber hinaus tätig sind. Sie berichteten von der Ankunft der Menschen, von den Herausforderungen bei der Aufnahme, von dem, was die Einrichtungen für die Aufnahme bereitstellen konnten.

Die Konferenz endete mit einem Blitzlicht auf die Workshops, die kurz zuvor in break out rooms stattgefunden hatten, und einer Zusammenfassung des Tages.

Die gesamte Konferenz sowie weiterführende Informationen veröffentlicht Crossroads im neuen Jahr.