„Der Gesetzgeber hat ein Talent, sehr komplizierte Regelungen zu treffen“

Bei der Fachveranstaltung „Leistungszugänge für Menschen mit Behinderung aus der Ukraine“ sprach Volker Gerloff vor Fachkräften der Behindertenhilfe und Unterstützer*innen ukrainischer Geflüchteter über den Rechtsrahmen, in dem sich geflüchtete Ukrainer*innen mit und ohne Behinderung bewegen, über den umstrittenen Paragrafen 100 Absatz 1 SGB IX und über eine Gesetzgebung, die so komplex ist, dass sie die Hilfebedürftigen sogar behindert – obwohl sie viele gute Regelungen für deren Teilhabe enthält. 

Volker Gerloff ist Fachanwalt für Sozialrecht in Berlin. Für Handicap International beziehungsweise dessen Projekt „Crossroads“ legte er am 6. Oktober 2022 bei einer Fachveranstaltung mit 185 Teilnehmer*innen dar, auf welche Gesetzeslage Menschen mit einer Behinderung stoßen, wenn sie nach Deutschland flüchten. Sein Vortrag war zugeschnitten auf die spezielle Situation der Ukraine-Geflüchteten, aber der Fachanwalt zeigte auch auf, dass die Lage derer ausgesprochen schwierig ist, die aus anderen Ländern als der Ukraine flüchten und damit nicht in den Rechtskreis des SGB, sondern in den des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) fallen. Mehrfach verwies Gerloff darauf, dass die EU-Aufnahmerichtlinie vorgibt, dass besondere Schutzbedarfe nach der Aufnahme einer Person unverzüglich festgestellt werden müssen. 

Der Vortrag im Überblick – Themen

  • Soziale Sicherheit geflüchteter Menschen, speziell von Geflüchteten aus der Ukraine
  • Wesentliche Leistungssysteme, denen die Geflüchteten zugewiesen sind:
    • SGB II für Arbeitssuchende
    • SGB XII für Nichtarbeitssuchende bzw. die, die nicht arbeiten gehen können
    • SGB VIII für Kinder und Jugendliche
    • AsylbLG als Spezialgesetz
  • Was bedeutet der Rechtskreiswechsel für die Ukrainer*innen?
  • Zugang zu Pflege und Leistungen nach AsylbLG und SGB II und SGB XII
  • Wer zahlt den Umzug und die Miete für eine barrierefreie Wohnung nach AsylbLG und SGB II und SGB XII?

Schon während seiner Erklärung zum Rechtskreis, unter den die Ukraine-Geflüchteten fallen, wies Gerloff auf einen bekannten Umstand hin: 

Der Gesetzgeber hat das Talent, sehr komplizierte Regelungen zu treffen, was insofern problematisch ist, weil die Adressaten der Gesetze Leute sind, die weder die Sprache können noch mit dem Rechtssystem Erfahrung haben. Für die Betroffenen besonders komplizierte Gesetze zu machen, das ist zumindest fragwürdig.

Bezogen auf die Ukraine-Geflüchteten bedeutet dies, dass die Gesetzgebung dadurch, dass sie verhindern will, dass die ukrainischen Geflüchteten im AsylbLG landet, eine Spezialregelung eingeführt hat – die alles noch komplizierter macht. „Das ist ein typischer Effekt in der sozialen Sicherung von geflüchteten Menschen oder Ausländer“, sagte Gerloff. Dass der Rechtskreiswechsel Ende Juni regional unterschiedlich geklappt habe („mal gut, mal holprig“) kann er ebenfalls berichten.

Ohne Antrag keine Leistungen

Seit die Ukrainer*innen dem Rechtskreis des SGB zugehören, gilt auch für sie der Antragsgrundsatz in SGB II: „Leistungen gibt es nur dann, wenn ein Antrag gestellt wurde“, erklärt Volker Gerloff. Sind die Geflüchteten erwerbsunfähig vor, fallen sie unter das SG XII. Auch hier gilt: „Ohne Antrag keine Leistung“. Nun nennt Gerloff den wichtigen § 28 SGB X, der besagt, dass, wenn man beim falschen Amt einen Antrag stellt, dem Antragsteller kein Schaden entstehen soll, und er äußert sich positiv über das Sozialrecht – und über die Probleme in der Praxis:

Das ist das Schöne am Sozialrecht: Es enthält viele Regelungen, die die soziale Sicherheit optimal gewährleisten. Aber die Regeln kennen nicht alle, besonders die Berliner Behörden kennen sie nicht bzw. verschweigen sie sie den Betroffenen. Das ist in der Praxis ein ernstes Problem.

Zugang zur Eingliederungshilfe für Geflüchtete mit Behinderung

Grundsätzlich gilt nach § 100 Abs. 2 SG IX, dass keinen Zugang zur Eingliederungshilfe hat, wer Leistungen nach AsylbLG bezieht. Hier gibt es laut Volker Gerloff wegen des sogenannten Ermessensanspruchs (§ 6 Abs. 1 AsylbLG) weitgehende Ausnahmen. Auch ein geflüchteter Mensch mit Behinderung hat Bedarfe, und die müssen gedeckt werden. Dafür ist die Eingliederungshilfe zuständig. Dabei dürfe die Bedarfsdeckung aber nicht vom Aufenthaltsstatus abhängen, sagt Gerloff, obwohl sie es aufgrund der Gesetzgebung tue. Gerichte hingegen entschieden überwiegend, dass, wenn ein Eingliederungsbedarf und über den § 6 nur ein Ermessensanspruch bestehe, das Ermessen auf Null reduziert sei. 

In der Praxis müsste eine Behörde also den gesamten Umfang der Eingliederungshilfe zur Verfügung stellen. Allerdings entscheiden Behörden sehr oft im eigenen Ermessen, dass jemand keine Leistung braucht. Oft argumentieren sie damit, dass bei jemandem, der im Asylverfahren ist, nicht klar sei, ob er in Deutschland bleiben werde. Möglicherweise aber wollen die Behörden die Kosten der Eingliederungshilfe einsparen, und weil die Gerichte dies aber als rechtswidrig betrachten, sollten die Betroffenen vor Gericht ziehen, ist Gerloff überzeugt. Das hingegen tun sie allermeist nicht, obwohl sie vor Gericht gute Chancen haben, Recht zu bekommen. „Auf politischer Ebene muss für die Abschaffung des § 100 Abs. 2 SGB IX gekämpft werden“, meint Gerloff. 

Das „Privileg“ der ukrainischen Geflüchteten

Geflüchtete aus der Ukraine, die eine Behinderung haben, sind gegenüber Geflüchteten mit Behinderung, die aus anderen Ländern kommen, fast schon privilegiert: Sie haben einen Aufenthaltsstatus, daher gilt für sie § 6 Absatz 2, wenn sie einen besonderen Schutzbedarf haben; eine Behinderung zeitigt einen besonderen Schutzbedarf. Mit § 6 haben die Geflüchteten Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Volker Gerloff betont hier noch einmal die Bedeutung der EU-Aufnahmerichtlinie, auf die sich die positive Rechtsprechung stütze.

In der EU-Aufnahmerichtlinie ist festgeschrieben, dass alle EU-Mitgliedstaaten dafür sorgen müssen, dass alle Menschen vollen Zugang zu allen notwendigen Gesundheitsleistungen haben, inklusive der Eingliederungshilfe. Laut Richtlinie ist der besondere Schutzbedarf unverzüglich festzustellen – was Deutschland bislang nicht tut. Kaum ein Geflüchteter nimmt seine vollständige Krankenakte mit, wenn er flüchtet, und legt sie der Behörde vor, wenn er seine Behinderung angibt. Daher kann eine Behörde eben auch sagen: „Das kann ja jeder behaupten!“, und Nachweise fordern. Nachweise zu erbringen kann dauern. Daher gibt es eigentlich die Regelung, dass die Behörden die Bedarfe von Amts wegen feststellen müssen. Volker Gerloff beispielsweise fordert von der Politik, dass die Behörden die Regelung endlich umsetzen. 

Derweil im Chat

Während Volker Gerloffs Vortrag tauschten sich die Teilnehmenden parallel zu den Inhalten des Vortrags im Chat aus und gaben einander wertvolle Hinweise, zum Beispiel auf die Frage „Auf welchen Gesetzestext kann man sich beziehen, um die Behörden darauf hinzuweisen, dass sie die Zuständigkeiten untereinander klären können?“. Hier verwies eine Teilnehmerin auf § 16 Absatz 2 SGB I. Die Arbeit der Pflegestützpunkte bei der Beantragung von Leistungen wurde gelobt („Mit den Pflegestützpunkten klappt es super!“). Eine Fachkraft wies daraufhin, dass Landkreise die sogenannten Gesundheitskioske beantragen könnten, mit denen das Bundesgesundheitsministerium die Beratung von Personen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf in benachteiligten Regionen ermöglichen will. Auch auf die Brückenbauer*innen wurde hingewiesen, die weniger die Geflüchteten selbst als die Fachkräfte bei ihrer Arbeit unterstützen.

Im Chat wurde problematisiert, dass nie klar ist, wer dolmetscht, wenn der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) kommt, bzw. wer den*die Dolmetscher*in bezahlt.

Das Crossroads-Team unterstützt im Chat

Weil die Veranstaltung sich an Fachkräfte der Behindertenhilfe, die ukrainische Geflüchtete mit Behinderung beraten, richtete, gab es keine Übersetzung ins Russische und Ukrainische. Dr. Susanne Schwalgin verwies daher auf die Veranstaltungen für ukrainische Geflüchtete hin, die im November anstehen. Weil sich die Frage nach dem Rechtskreis bzw. dem Gesetzbuch, unter das Kinder fallen, wiederholt, bat eine Fachkraft darum, dass es zum Thema „Kinder und SGB XIII“ eine eigene Veranstaltung geben möge. Dr. Schwalgin nahm die Bitte in die Veranstaltungsplanung für 2023 mit auf.

Immer wieder verwies das Crossroads-Team auf künftige Veranstaltungen, auf die FAQ für Fachkräfte und den Newsletter, den das Team an Fachkräfte versendet, und die Webseite Hilfsabfrage, über die eben auch Wohnraum, aber auch andere Unterstützung von Einrichtungen der Behindertenhilfe gefunden werden kann.

Auf die Frage hin, wer die Dolmetscher zahle, nannte Dr. Schwalgin beispielhaft die Caritas Osnabrück, die einen Leitfaden erstellt hat, wie man Sprachmittlung beantragen kann. Auch riet sie dazu, bei der Beratung von Geflüchteten mit Behinderung systematisch mit einer Beratungsstelle der Behindertenhilfe zusammenarbeiten, dafür infrage kämen unter anderem die Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungen.

Hilfe bei der Wohnungssuche

Kann man für die Wohnungssuche einen Makler beauftragen? Diese Frage einer Teilnehmerin brachte Erstaunliches und Erfreuliches zutage: Dafür gibt es bei der Wohnungsbeschaffungshilfestelle einen Antrag, aber man müsse aufpassen, ob der Maklerschein wirklich helfen kann. In Köln beispielsweise akzeptierten Makler den Schein nicht. Aber nicht nur ein*e Makler*in kann beauftragt werden, auch eigene Anzeigen können geschaltet werden, man müsse dazu aber nachweisen, dass man entweder selbst nicht in der Lage sei, zu suchen, oder aber die Suche erfolglos geblieben sei. Auch hier sei die Unterstützung eine Ermessensleistung. Bei einer Familie mit zwei Kindern, eines davon ein Neugeborenes, hat es geklappt, berichtete eine Fachkraft. Die Familie hatte in einem Heim in einem kleinen Zimmer gewohnt, zusammen mit einer weiteren Erwachsenen. Ihr Antrag auf die Unterstützung durch einen Makler sei genehmigt worden.

(Kontakt-)Adressen auf einen Blick

Hilfsabfrage – Wohnungen, Transport und Hilfsmittel von Einrichtungen der Behindertenhilfe: https://www.hilfsabfrage.de

Bundesgesundheitsministerium – Informationen zu den Gesundheitskiosken: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/g/gesundheitskiosk.html

Brückenbauer*innen – Modellprojekt für Fachkräfte in der Palliativversorgung von Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte: https://brueckenbauerinnen.de

Caritas Osnabrück – Angebot zur Sprach- und Kommunikationsmittlung: https://www.caritas-os.de/themen/migration-und-integration/angebote/2176184

Unabhängige Teilhabeberatungsstellen: https://www.teilhabeberatung.de