„Wieder einmal erschwert ein Gesetz den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Teilhabe.“

Anfang Juni fand der sogenannte Rechtskreiswechsel statt: Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, beziehen nun nicht mehr Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), sondern nach dem Sozialgesetzbuch (SGB II und XII). Gute Regelungen für die Eingliederungshilfe hat der Gesetzgeber aber vernachlässigt. Die Folgen für Menschen mit Behinderung sind fatal.

Aus der ganzen Ukraine flüchten Menschen in die Nachbarländer, über Polen bis nach Deutschland. Hier können sie ankommen, arbeiten, vielleicht sogar für lange Zeit bleiben. Ihnen brachte der sogenannte Rechtskreiswechsel nicht nur eine bessere finanzielle Ausstattung, sondern auch den Zugang zum Gesundheitssystem. Sie können nun arbeiten. Kurzum: Sie können in Deutschland Fuß fassen. 

Teilhabe hängt von Ermessensentscheidungen ab

Nun sind unter den Geflüchteten viele Menschen mit einer Behinderung – angeborener oder erworbener, körperlicher oder geistiger. Auch sie wollen ankommen und bleiben, auf eine Zukunft in der Gemeinschaft blicken. Anders als bei deutschen Menschen mit einer Behinderung – für die der Zugang zur Gesellschaft nun beileibe auch nicht immer leicht ist – hängt ihre Teilhabe vom Ermessen der Mitarbeiter*innen in den Sozialämtern ab. Das kann gut, das kann aber auch ganz schlecht laufen. Meistens läuft es so mittel. Aber der Reihe nach. 

Was ist der Rechtskreiswechsel?

Im Rahmen des Rechtskreiswechsels sind erwerbsfähige, obgleich durch die Flucht hilfebedürftige Menschen vom Anwendungsbereich des AsylbLG in den des SGB gewechselt. Nun erhalten sie die Grundsicherung („Hartz 4“) statt der reduzierten Sozialleistungen des AsybLG. Im Wesentlichen vereinfacht der Rechtskreiswechsel ihren Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Leistungen der Grundsicherung. 

Auch Nichterwerbstätige ziehen Vorteile aus dem Rechtskreiswechsel. Das sind

  • Rentner*innen und 
  • nichterwerbsfähige Menschen mit einer Behinderung.

Sie fallen unter den Anwendungsbereich von SGB XII und bekommen also Sozialhilfe. Um dazu Zugang zu erhalten, reicht ein Kurzantrag (Formulare sind auf den Websites der Bundesländer erhältlich, hier zum Beispiel für Berlin).

Wer darf den Rechtskreiswechsel vollziehen?

Menschen aus der Ukraine wird die Aufenthaltserlaubnis nach § 24 des Aufenthaltsgesetzes erteilt. Wer diese Erlaubnis hat, kann den Rechtskreis wechseln. Aber er oder sie muss bis spätestens Ende Oktober erkennungsdienstlich erfasst worden sein. Das verdient Kritik, und die taz weiß, woran: „Warum eine derartige Behandlung, die sonst nach einer Festnahme wegen einer Straftat vorgenommen wird, für die Beantragung von Sozialleistungen notwendig sein soll, ist nur schwer nachvollziehbar.“ (Zum taz-Artikel

Personen, die die Aufenthaltserlaubnis nach § 24 erst beantragt haben und erst eine Fiktionsbescheinigung haben, sind noch gestrafter: Sind sie „nur“ im Ausländerzentralregister gespeichert, müssen sie außerdem erkennungsdienstlich behandelt werden. 

Wer die Anforderungen „Aufenthaltserlaubnis und erkennungsdienstliche Behandlung“ oder „Fiktionsbescheinigung und Aufnahme im AZR und/oder erkennungsdienstliche Behandlung“ nicht erfüllt, verbleibt im Rechtskreis des AsylbLG. 

Besser als 2015

Der Rechtskreiswechsel basiert auf einem Beschluss des Bundesrates vom 20. Mai 2022. Das neue Gesetz gilt bundesweit. Dankenswerterweise hat das IQ-Netzwerk Niedersachsen die Leistungsansprüche in einer übersichtlichen Tabelle veröffentlicht: „Sozialrechtliche Rahmenbedingungen mit Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG bzw. nach Antrag auf vorübergehenden Schutz“

Anders als bei den Geflüchteten aus Syrien im Jahr 2015 wollte die Bundesregierung es dieses Mal besser machen. Ziel des Beschlusses war es, den Geflüchteten aus der Ukraine den Start in Deutschland zu vereinfachen.

Allen Geflüchteten? Nein, für eine Gruppe besonders schutzbedürftiger Menschen wurde keine befriedigende Lösung für einen gelingenden Start gefunden: für die Menschen, die eine Behinderung haben. Wer von ihnen die Eingliederungshilfe erhält, bleibt den JobCentern und dem Sozialamt überlassen. 

Betroffene werden sich die Eingliederungshilfe erkämpfen müssen

Karsten Dietze von Handicap International kennt die Vernachlässigung geflüchteter Menschen in der deutschen Gesetzgebung seit langem: „Wieder einmal erschwert ein Gesetz den Menschen mit Behinderung den Zugang zur Teilhabe.“ Dietze kritisiert den Beschluss des Bundesrates. Ein klarer Leistungsanspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nach SGB IX wurde im Gesetz nicht verankert. Zwar weist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales darauf hin, dass Menschen aus der Ukraine Leistungen der Eingliederungshilfe zu erteilen ist. Einige Länder verweisen aber stattdessen auf Paragraf 100 Absatz 1 SGB IX. Der schränkt den Erhalt von SGB IX Leistungen für Menschen ohne voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt empfindlich ein. „Schlussendlich wird es so sein, dass etliche Anträge abgelehnt werden“, ist sich Dietze sicher, „Leistungen werden zum Teil hart erkämpft sein.“ Das werde ein harter Weg für viele der Betroffenen und deren Angehörige. 

Was ist die Eingliederungshilfe?

Die Eingliederungshilfe nach SGB IX fördert die Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Die Menschen erhalten Geld-, Sach- oder Dienstleistungen, die ihnen ein möglichst selbstbestimmtes Leben und Teilhabe an der Gesellschaft ermöglichen. Die Leistungen sollen nicht nur weitere Behinderungen vermeiden, sondern auch die Folgen einer Behinderung abmildern. 

Was muss passieren?

Handicap International fordert gemeinsam mit Behindertenverbänden und -vereinen:

  • Eine gesetzliche Regelung für den Anspruch auf Eingliederungshilfe nach SGB IX für geflüchtete Menschen mit Behinderung aus der Ukraine
  • Aufhebung des Paragrafen 100 Absatz 2. Dieser schließt den größten Teil der asylsuchenden, auch nicht ukrainischen Menschen mit Behinderung aus der Eingliederungshilfe aus.

Fatale Folgen für geflüchtete Menschen mit Behinderung

Aus einer Behinderung folgt fast immer ein Hilfebedarf.

Erhalten Betroffene keine Hilfsmittel, zum Beispiel einen Rollstuhl, sind sie unter Umständen ans Haus gefesselt. 

Sie können und wollen arbeiten – das geht nicht.

Was nicht nur ihnen selbst schadet, auch freie passende Arbeitsplätze bleiben unbesetzt und die Arbeit unerledigt.

Sie sind weitgehend aus der Gesellschaft ausgeschlossen.

Sie vereinsamen. Behinderungen können sich verschlimmern, Schmerzen und psychische Probleme sind die Folge. 

Was ist zu tun?

Die Entscheidung über den Bezug von Leistungen der Eingliederungshilfe muss als Rechtsanspruch gefasst sein. Nur eine klare gesetzliche Regelung erspart den Geflüchteten mit Behinderung den Kampf um Unterstützung – und den Behörden einige Arbeit.