Erstaufnahmeeinrichtungen und Identifizierung von Schutzbedürftigen

Um die Schutzbedürfnisse geflüchteter Menschen mit Behinderung bei der Aufnahme und im Asylverfahren angemessen zu berücksichtigen, müssen diese Bedürfnisse frühzeitig identifiziert werden. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland durch die EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU, Art. 22 dazu verpflichtet ist, findet eine systematische Identifizierung durch die Behörden und EAEs kaum statt. Besonders nicht-sichtbare Behinderungen wie kognitive Beeinträchtigungen und chronische Erkrankungen werden vielfach übersehen; und die sich daraus ergebenden Schutz- und Unterstützungsbedürfnisse werden nicht erkannt. Der Zugang zu

• medizinischen Leistungen,
• Hilfsmitteln,
• bedarfsgerechten Beratungs- und Begleitungsangeboten,
• behinderungsspezifischen Infektionsschutzmaßnahmen,
• inklusiven Beschulungsangeboten,
• Verfahrensgarantien im Asylverfahren
• und nicht zuletzt bedarfsgerechter Unterbringung

ist eingeschränkt.

Ein Verfahren zur Identifizierung behinderungsspezifischer Schutz- und Unterstützungsbedürfnisse, direkt nach Ankunft, beziehungsweise nach der Aufnahme von Asylsuchenden muss erst noch konzipiert, erprobt und flächendeckend implementiert werden. Näheres zu den Erfordernissen für eine bedarfsgerechte Unterbringung zeigt ein Positionspapier von Handicap International.

Da die Wohnverpflichtung in EAEs auf bis zu 18 Monate ausgedehnt werden kann (bei Asylsuchenden aus sogenannten sicheren Herkunftsländern auf bis zu 24 Monate), ist die langfristige Unterbringung für viele Asylbewerber*innen keine Übergangslösung – sondern oft die Regel. Laut einer Expert*innen-Anhörung im Ausschuss für Verfassung, Recht, Parlamentsfragen und Integration im bayerischen Landtag im Jahr 2019 müssen selbst Eltern mit kleinen Kindern teils bis zu 24 Monate in den sogenannten Ankerzentren bleiben – erlaubt sind nach der Einschätzung von Professor Michael Wrase, Spezialist für Öffentliches Recht, der sich ebenfalls in der Anhörung äußerte, aber nur sechs Monate. Das bayerische Innenministerium hat daraufhin zugesichert, diesen Anspruch in Zukunft umzusetzen.

In anderen Bereichen fiel die Expert*innen-Bilanz zu den sogenannten Ankerzentren in der Anhörung sehr unterschiedlich aus. Uneinigkeit herrschte zum Beispiel darüber, ob die Beschleunigung der Verfahren im Verhältnis zum Aufwand steht. Rechtsanwalt und Asylrechtsexperte Hubert Heinhold etwa bemerkte die geringere Anerkennungsquote von Geflüchteten in Ankerzentren im Vergleich zum Bundesdurchschnitt und führte das auf ineffektive Rechtsberatung zurück. „Vor der Anhörung erhält fast keiner eine unabhängige Beratung, danach ist es dann zu spät“, sagte Heinhold in der Anhörung. Er kritisierte, dass Rechtsanwält*innen und unabhängige Berater*innen erhebliche Schwierigkeiten hätten, Betroffene in den Ankerzentren juristisch zu beraten. Die Verfahrensberatung des BAMF hielt auch Dr. Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik für unzureichend.

Darüber hinaus ist die Versorgung von Kindern und traumatisierten Menschen, zu denen oft auch Geflüchtete mit Behinderung gehören, nach Expert*innenansicht problematisch. „Die größten Verlierer der Ankerzentren sind Kinder und Traumatisierte“, sagte Dr. Daniel Drexler, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. „Die Lebensbedingungen dort machen sie krank.“

Charakteristisch für die Wohnsituation in Sammelunterkünften für Geflüchtete ist darüber hinaus die große Bewohner*innenzahl, verbunden mit einer hohen Belegungsdichte, geringen Rückzugsmöglichkeiten und geteilten Schlafräumen und Sanitäranlagen.

Hinzu kommt, dass noch immer nicht alle EAEs, in denen Menschen mit Behinderung wohnen, barrierefrei sind. Nicht immer gibt es Bereiche für besonders schutzbedürftige Menschen. Diese räumlichen Rahmenbedingungen verhindern trotz Bemühungen des Personals ein schützendes, förderndes und vertrauensstiftendes Lebensumfeld. Sie widersprechen dem Recht auf Privatsphäre (Art. 22, UN-BRK) und auf eine angemessene Wohnung (Art. 28, UN-BRK) und missachten spezifische Bedürfnisse, die je nach Beeinträchtigung essenziell sind, wie den Schutz vor

• Stigmatisierung,
• Stress im Kontext der Verarbeitung von Sinneseindrücken,
• schambesetzten Situationen beim Verrichten hygienischer Maßnahmen,
• Schutz vor körperlichen und sexuellen Übergriffen etc.

Die bedarfsgerechte Essensversorgung ist für geflüchtete Menschen mit Behinderung durch die Praxis der Essensversorgung in EAEs zusätzlich erschwert: Einige haben aufgrund ihrer Behinderung spezielle Bedürfnisse bei der Ernährung, denen EAEs aufgrund ihrer Gruppenversorgung nur sehr eingeschränkt nachkommen können. Die Bewohner*innen bekommen für den Erwerb von Lebensmitteln meistens kein Geld, die Leistungserbringung erfolgt stattdessen in Form von Sachleistungen (§3 Absatz 2 AsylbLG). Dies verstärkt das Gefühl der Fremdbestimmtheit bei den Betroffenen in einem bereits von einer Vielzahl von Einschränkungen geprägten Alltag. Die getroffenen Maßnahmen sind dabei nicht nur Ausdruck von mangelnder Sensibilisierung oder Information seitens der Behörden, sondern zum Teil auch politisch gewollt, um keine sogenannten Fehlanreize zum Bleiben zu schaffen.

Ein bedarfsgerechtes Lebensumfeld für Menschen mit Behinderung beinhaltet neben einer geeigneten räumlichen Infrastruktur sowie der Bereitstellung von Hilfsmitteln und medizinischen Leistungen auch Assistenzleistungen, tagesstrukturierende Maßnahmen und Beratungsangebote. Entsprechende Personalstellen werden im Rahmen der EAEs nur selten eingeplant.

Dabei sind gerade spezifische, möglichst betreiberunabhängige Beratungsangebote notwendig, um Rechtsansprüche auf eine bedarfsgerechte Wohnform, medizinische oder andere Leistungen durchzusetzen. Die Beantragung entsprechender Leistungen – in Anlehnung an die Teilhabeleistungen des SGB IX mittels § 6 AsylbLG – ist für Geflüchtete mit Behinderung oft mit schwer überwindbaren bürokratischen Barrieren verbunden. Ihre Durchsetzung ist durch die großen Ermessensspielräume im AsylbLG oft ungewiss.

In vielen EAEs erhalten externe Beratungsanbietende nur sehr begrenzt Zugang zu den Betroffenen. Außerdem lassen die Ressourcen und die Auftragsbeschreibung externer Beratungsangebote eine aufsuchende Beratung in Sammelunterkünften, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt zu.

Gleichzeitig können Asylsuchende mit einer Behinderung außerhalb der Einrichtungen liegende Angebote aufgrund der oft entlegenen Lage der Sammelunterkünfte oft nur unter großen Schwierigkeiten aufsuchen. Die abgelegenen Standorte von EAEs erschweren auch den Kontakt zu unterstützenden Gemeinschaften oder Gruppen, wie der Gehörlosencommunity, zu ehrenamtlichen Unterstützern vor Ort, inklusiven Beschulungsangeboten, potenziellen Arbeitsstellen und weiteren externen Dienstleistungen.

Eine Caritas-interne Befragung zur Versorgungslage geflüchteter Menschen mit Behinderung in Deutschland in Beratungsstellen im Bereich Flucht und Migration sowie in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, die insgesamt 1.360 geflüchtete Personen mit Behinderung beraten haben, kam im Jahr 2019 zu dem Schluss, dass insbesondere die die Behindertenhilfe bei der Beratung von Geflüchteten mit Behinderung vor Herausforderungen steht. Etwa 72 Prozent der Berater*innen beklagen ein fehlendes Wissen zum Leistungsanspruch für geflüchtete Menschen mit Behinderung sowie 66 Prozent die restriktive Gesetzeslage, welche die Gesundheitsleistungen für Bezieher*innen von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz deutlich einschränkt. Nur 10 Prozent verfügen über ein spezifisches Angebot für Geflüchtete mit Behinderung. Auf diese Informations- und Beratungslücke reagiert das Projekt Crossroads.