„Da sind eklatante Lücken in der Versorgung von Geflüchteten mit Behinderung“

Geflüchtete Menschen mit Behinderung sind besonders schutzbedürftig. Um sie bedarfsgerecht mit Hilfsmitteln und Wohnraum zu versorgen, müsste ihre Einschränkung schon früh identifiziert werden, am besten gleich bei ihrer Ankunft in Deutschland. Viel zu oft geschieht genau das nicht. Dabei entstehen durch die Nichterfassung sogenannte Versorgungslücken – mit fatalen Folgen für die Geflüchteten. 

Der schwer körperlich behinderte Elfjährige, der in der Erstaufnahmeeinrichtung ohne Fahrstuhl mit seiner Mutter im zweiten Stock untergebracht wird. Der sterbende Patient im Mehrbettzimmer, der eine palliativmedizinische Behandlung braucht und sie nicht bekommt, weil er in den Rechtskreis des Asylbewerberleistungsgesetzes fällt. Die an Multipler Sklerose erkrankte Rollstuhlfahrerin in der Unterkunft voller Barrieren. – Wer in Deutschland als geflüchteter Mensch mit einer Behinderung in einer Unterkunft lebt, tut dies oftmals unter Umständen, die menschenrechtlich höchst bedenklich sind. Aber diese Umstände belasten die Betroffenen nicht nur, sie gefährden sie sogar.

Im Herbst flüchten wieder mehr Ukrainer*innen nach Deutschland

Organisationen der Behindertenhilfe fordern seit Jahren, dass Länder und Kommunen Behinderungen und damit verbundene Bedarfe systematisch identifiziert, dokumentieren und darauf aufbauend eine bedarfsgerechte Versorgung in die Wege leiten. Für eine erste Identifizierung schlägt beispielsweise Handicap International das Fragenset der sogenannten Washington Group Questions vor (Identifizierung einer Behinderung). Mit der neuen Bundesregierung bewegt sich nun etwas, wenn auch nur leicht: SPD, GRÜNE und FDP haben im Koalitionsvertrag festgelegt, dass vulnerable Gruppen während ihrem Asylverfahren stärker unterstützt und ihre Schutzbedarfe bei ihrer Ankunft identifiziert werden sollen. In Brandenburg geht man seit Längerem einen eigenen Weg: Geflüchtete Menschen mit Behinderung, die in Erstaufnahmeeinrichtungen Zuflucht gefunden haben, sollen an Kommunen vermittelt werden, in denen es eine gute Versorgungsstruktur gibt. Dadurch sollen die Betroffenen zu dieser Struktur leichter Zugang erhalten.

Momentan bestehende Versorgungslücken werden damit aber nicht geschlossen. Nun ist der Herbst da, noch immer herrscht in der Ukraine Krieg, die Zahl der Flüchtenden wird wieder steigen und damit auch die Zahl der Geflüchteten mit einer Behinderung. Handicap International fürchtet, dass sich die Situation für geflüchtete Ukrainer*innen mit Behinderung noch einmal verschärfen wird, und appelliert wieder und wieder an die Verantwortlichen, endlich mit einer systematischen Identifizierung zu beginnen.

Auch ist es wichtig, dass Einrichtungen der Behindertenhilfe, freien Wohnraum und Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen (Angebot machen / Angebot finden).

Rechtsrahmen versus Realität

Versorgungslücken gibt es bei barrierefreiem Wohnraum, bei Hilfsmitteln und bei der medizinischen Behandlung. Mittlerweile muss man unterscheiden zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und Geflüchteten aus anderen Ländern. Erste sind nämlich vergleichsweise privilegiert: Seit Juni 2022 fallen sie in den Rechtskreis der Sozialgesetzgebung, also SGB V und XII und eingeschränkt auch XI (siehe die Kritik daran von Handicap International hier). Rechtlich gesehen haben sie also Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen, auch zu Rehabilitationsleistungen wie einer Physiotherapie. Ob die Geflüchteten allerdings in der Lage sind, sich Zugang zu diesen Leistungen zu verschaffen, ist fraglich. Viele wohnen in Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen es – auch aufgrund der Lage außerhalb von Städten – nur selten eine Beratung gibt. Hinzu kommen Sprachbarrieren oder behinderungsbedingte Hürden: Wer gehörlos ist, benötigt eine Sprachmittlung, die es in Erstaufnahmeeinrichtungen nicht gibt. 

Unterstützungsbedarfe geflüchteter Menschen mit Behinderung

Wer aus anderen Ländern als der Ukraine nach Deutschland flüchtet, für den gilt das Asylbewerberleistungsgesetz. Das trifft geflüchtete Menschen mit Behinderung sehr hart: Die medizinische Behandlung ist auf akute Schmerzen und Erkrankungen (§ 4 AsylbLG) begrenzt. Menschen mit Behinderung brauchen jedoch viel häufiger eine medizinische Betreuung – eine umfassende. Sie reicht von häufigen Besuchen in ärztlichen Praxen über Krankenhausaufenthalte bis hin zu einer durchgehenden Versorgung mit (teuren) Medikamenten. Darüber hinaus brauchen die Menschen Therapien: Logopädie, Ergotherapie, Krankengymnastik. Sie benötigen Hilfsmittel wie Geh- oder Sehhilfen, Blutdruckmessgeräte, Pflegebetten etc. Vorenthält man ihnen das, ist nicht nur ihr Alltag beschwerlich, sie sind in Gefahr, isoliert zu werden, finden keinen Zugang zur Gesellschaft und ihre Schmerzen und Einschränkungen können sich bis hin zur Chronifizierung verschlechtern. Mit Kontrakturen lässt sich nicht mehr laufen, wer nicht laufen kann, muss liegen oder sitzen, wer ständig sitzt oder liegt, bekommt multiple Probleme: vom Wundliegen und Luftnot über einen insulinpflichtigen Diabetes bis hin zu schweren psychischen Problemen. Das ist menschenunwürdig!

Deutschland muss die Rechte geflüchteter Menschen mit Behinderung verwirklichen

In dem Moment, als Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat, hat es sich verpflichtet, die Rechte geflüchteten Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen. Folgende Rechte sind bedeutsamsten: 

  • Das Recht auf eine bedarfsgerechte und barrierefreie Unterbringung (Artikel 28 in Verbindung mit Artikel 9 UN-BRK)
  • Das Recht auf ein erreichbares Höchstmaß an Gesundheit (Artikel 25 UN-BRK) 
  • Das Recht auf Rehabilitationsleistungen (Artikel 26 UN-BRK)

Die von den Organisationen der Behindertenhilfe geforderte systematische Identifikation von Behinderung und Bedarfen findet ihre Entsprechung in der EU-Aufnahmerichtlinie: Sie schreibt den EU-Staaten vor, bei der Aufnahme Geflüchteter die Situation besonders schutzbedürftiger Menschen zu berücksichtigen. Würde dies geschehen, würden langfristig Versorgungslücken nachhaltig geschlossen werden.

Sozialbehörden entscheiden über behinderungsspezifische staatliche Leistungen

Die Verpflichtung Deutschlands wurde in die Amtsstuben der Kommunen und Städte geschoben – in die Sozialbehörden. Dort aber wendet man vor allem § 6 Absatz 1 AsylbLG an und erkennt Leistungen zu, „wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich“ sind. Behörden, also nicht geschulte Fachkräfte, entscheiden vom Schreibtisch aus oft über eine medizinische Versorgung und die Ausstattung mit Hilfsmitteln, ohne das sie das Fachwissen besitzen, auf dem eine gute und richtige Entscheidung basiert. Das ist eine staatlich initiierte Überforderung der Sachbearbeiter*innen; hier wird Verantwortung delegiert.

Nicht geschulte Menschen entscheiden über die Gesundheit, das Leben, die Zukunft eines anderen Menschen. Und dies zu oft so, dass dieser Mensch Schaden erleidet. 

Strukturelle Gegebenheiten, durch die Versorgungslücken entstehen 

Ob es bei den geflüchteten Ukrainer*innen so wie beschrieben ist, wird sich zeigen, aber bei Geflüchteten aus anderen Ländern, Syrien oder Eritrea beispielsweise, bewilligen die Sozialbehörden selten Unterstützungsleistungen bei einer Behinderung. Oft gehen dem aufwendige Beantragungen voran, die von den Betroffenen fast nicht leistbar sind. Ein Grund hierfür sind Probleme mit der Kommunikation zwischen ihnen und den Ämtern. Solche Probleme verhindern ebenso oft eine umfassende Versorgung der Menschen, weil unklar bleibt, welche Bedarfe vorliegen. 

Den Betroffenen bleibt der Zugang zu Informationen verwehrt, entweder aufgrund ihrer Behinderung (Blindheit, Gehörlosigkeit) oder aufgrund fehlender Sprachkenntnisse. Beim Spracherwerb stoßen die Menschen auf eine weitere Barriere: ein mangelhaftes bis fehlendes barrierefreies Angebot an Sprach- und Integrationskursen. Bei dessen Ausbau ist das BAMF gefragt. 

Ein weiteres strukturelles Problem ist die Lage der Erstaufnahmeeinrichtungen. Sie lässt sich oft so beschreiben: weit ab vom Schuss. Beratungsstellen, Praxen, Behörden haben ihren Sitz jedoch oft in den Städten. Und sind zudem nicht ganz leicht zu finden, wenn man ein Mensch aus einem anderen Land ist, der zudem körperlich oder kognitiv beeinträchtigt ist. 

Karsten Dietze von Handicap International kennt die Situation seit Jahren: „Da sind eklatante Lücken in der Versorgung von Geflüchteten mit Behinderung“, sagt er. Dietze begrüßt die Verbesserungen, die die Gesetzeslage für die ukrainischen Geflüchteten herbeigeführt hat, weiß aber auch, dass es bis zu einem „Nun sind geflüchtete Menschen mit Behinderung gut versorgt“ noch ein sehr weiter Weg ist. 

Die wichtigsten Versorgungslücken auf einen Blick

Welche Lücken geschlossen werden müssen, lässt sich schnell benennen:

  • bei barrierefreien Unterkünften 
  • in der medizinischen Versorgung
  • bei Hilfsmitteln und Leistungen des Sozialstaates 
  • bei Fachberatungen
  • bei den Informationen zu Unterstützungsleistungen