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Erfahrungsbericht: Ein langer Weg zur Teilhabe

Als Mohamad Jolo Anfang 2016 aus Syrien nach Deutschland kam, lag ein langer Weg hinter ihm: Der blinde Mann war über die Balkonroute nach Deutschland geflüchtet. In Köln angekommen, lag nochmal ein langer Weg vor ihm. Jolo musste sich mit Bürokratie, Spracherwerb und viel Unsicherheit auseinandersetzen. Doch der Syrer hatte Glück: Er traf auf ein breites Netzwerk an Unterstützer*innen.

 

Mohamad Jolo sitzt in einem Café in Köln. Er lächelt, als er erzählt, dass er gerade erfahren habe, dass er die Sprachprüfung auf dem Level B2 in Deutsch bestanden hat. Für Jolo ist das ein Meilenstein. Er braucht das Sprachzertifikat, um in Deutschland die Ausbildung zum Physiotherapeuten machen zu können. „Ich bin seit sechs Jahren hier, und ich will viel mehr als ein bisschen Deutsch lernen“, sagt er entschlossen. Viel mehr.

Dieses „Viel mehr“ drückt Jolos nachvollziehbaren Wunsch nach einem erfüllten Leben aus, nach einer echten Zukunft in Deutschland. Jolo möchte Deutschland nie wieder verlassen. Hier hat er die Aussicht auf ein stabiles Leben für sich und seine Familie. Der 38-Jährige hat auf dem Weg zu mehr Teilhabe in Deutschland schon viel erreicht: Er konnte im Rahmen des Familiennachzugs seine Frau und seine vier Kinder aus der Türkei nach Deutschland holen und mit ihnen eine passende Wohnung beziehen. Er erhielt einen Schwerbehindertenausweis und bekommt nun Blindengeld.

Allein hätte er das nicht geschafft. Jolo bekam Unterstützung von einem Beratungsnetzwerk und unter anderem von Wolfram Buttschardt, der bei Handicap International | Crossroads arbeitet, sowie vom Beratungszentrum muslimischer Frauen Köln e. V.

 

„Wir waren Einzelkämpfer“

Im Jahr 2016 kamen viele Flüchtlinge nach Deutschland. Das Land war darauf kaum vorbereitet – und auf geflüchtete Menschen mit Behinderung noch viel weniger. „Wir waren Einzelkämpfer“, sagt Buttschardt rückblickend. Buttschardt ist Diplom-Heilpädagoge und hat viel Erfahrung in der Beratung von Menschen mit Behinderung. Mit geflüchteten Menschen mit Behinderung hatten er und sein Team des damals gegründeten Netzwerks Flüchtlinge mit Behinderung Köln bis dato aber kaum zu tun. Er habe sehr viel recherchieren müssen, um die Grundlagen für eine erfolgreiche Beratung an der Schnittstelle von Flucht und Behinderung zu erarbeiten, erinnert sich Buttschardt und fährt fort: „Es ging deshalb anfangs auch nur langsam voran, aber Mohamad war sehr geduldig.“

Schritt für Schritt entstand dabei zwischen Buttschardt und Jolo eine Freundschaft. „Vom Kunden zum Freund“, beschreibt es Buttschardt. Jolo sagt: „Bei Wolfram habe ich sofort gemerkt: Er kann mir helfen. Er ist nicht hochnäsig, spricht mit jedem und hat keine Vorbehalte.“

 

Ein Unterstützungsnetzwerk aus rund 60 Organisationen

Buttschardt arbeitete 2016 bei der Beratungsstelle der Diakonie Michaelshoven in Köln und baute zusammen mit anderen Unterstützer*innen ein Netzwerk aus etwa 60 Organisationen auf, das für geflüchtete Menschen mit Behinderung in Köln zur Anlaufstelle wurde. „Das Wichtigste war, sich gegenseitig zu kennen, da war viel Improvisation und learning by doing dabei“, sagt Buttschardt.  „Wir haben damals Pionierarbeit geleistet, und diese Erfahrungen sind, wie die anderer erfahrener Kolleg*innen auch, in die Roadbox eingeflossen“, erklärt er.

Die Roadbox, das Onlinethemenportal des Projekts Crossroads | Flucht. Migration. Behinderung. von Handicap International entstand aus dem Bedürfnis heraus, Fachkräften systematisch Informationen zur Beratung geflüchteter Menschen mit Behinderung zur Verfügung zu stellen.

Die Roadbox ist eine Arbeitshilfe und die Ermutigung, nicht zu schnell aufzugeben.

Heute engagiert sich Mohamad Jolo bei Empowerment Now, das Projekt zur Qualifizierung von Selbstvertreter*innen von Crossroads. Dort setzt sich der ehemalige Philosophiestudent für die Belange von geflüchteten Menschen in Deutschland ein, er will eine systematische Berücksichtigung dieser Anliegen, die „Idee nach oben bringen“, wie er es nennt. Denn dass sein Weg so lange dauern würde, hätte Jolo damals nie vermutet: „Man fängt komplett bei Null an, und sich ein neues Leben zu bauen, dauert zehn oder 15 Jahre.“

Buttschardts Wünsche für die Zukunft sind ebenfalls systematischer Natur: „Wir von Handicap International wünschen uns zunächst einmal ein bundesweites Kompetenzzentrum Flucht und Behinderung, das Fachkräfte bundesweit unterstützt“, erklärt er. „Es werden wieder mehr Flüchtlinge kommen, wenn Corona vorbei ist, davon bin ich überzeugt. Und wenn es so weit ist, dann wünsche ich mir, dass wir und unsere Strukturen ein bisschen besser vorbereitet sind“, sagt Buttschardt.

Die Roadbox wird dabei hoffentlich eine entscheidende Rolle spielen: Sie wird die Qualität der Beratung fördern und es Fachkräften leichter machen, sich verlässliche Informationen zum Thema Flucht und Behinderung zu beschaffen – und sie soll motivieren, sich für geflüchtete Menschen mit Behinderung einzusetzen und eine Teilhabe von Anfang an zu ermöglichen.

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